Erzähladventskalender 2019

Weihnachten rückt näher. Wer Lust auf eine neue Weihnachtsperspektive hat, hat vielleicht Freude an den Geschichten des diesjährigen Erzähl-Adventskalender.

1. Dezember:

Hallo du!
Erinnerst du dich noch an mich?
Ich bin Chuck, eine der glänzend roten Christbaumkugeln aus deinem Weihnachtsvorrat.
Du hast mich und meine roten Freunde vor vielen Jahren gekauft, um jedes Jahr deinen Weihnachtsbaum mit uns zu dekorieren. Wir sind immer noch da, auch wenn du uns nicht mehr beachtest.
Neben uns liegen Tori, Senta, Santa, Silver und Diamond, die anderen Christbaumkugelsets, die du nicht mehr brauchst. Wir werden jedes Jahr mehr, seitdem du dich dafür entschieden hast, ständig den neusten Deko-Modetrends zu folgen.
Würdest du jeweils eine von uns endlich mal wieder aus der Verpackung befreien und an deinen Baum hängen, bekämst du den coolsten Baum aller Zeiten. Aber dieser Tipp steht in keiner Dekozeitung, deshalb würdest du nie auf die Idee kommen, so etwas zu tun.
Oder? …

2. Dezember:

… Du könntest mich natürlich auch mit einem Plusterstift oder mit Glitzerpulver in einer Farbe deiner Wahl verzieren. Ich empfehle Weiß, das sieht aus wie Schnee. Wenn schon immer seltener Schnee vor dem Fenster liegt, kannst du ihn wenigstens auf mich und meinen Freunden verteilen.
Ich liebe Schnee, auch wenn ich noch nie echten Schnee gesehen habe. Mir wurde nur davon erzählt – von deinen Kindern, die früher in der Weihnachtszeit immer aufgeregt am Fenster standen, in der Hoffnung, davor würden bald die wunderschön weißen Flocken fallen.
Lang, lang ist‘s her …

3. Dezember:

… Wie geht es deinen Kindern? Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.
Silver erzählte mir, sie seien vor zwei Jahren an Weihnachten zu Besuch gewesen. Sehr viel mehr als dass die beiden anwesend waren, wusste sie nicht zu berichten. Man habe sie nicht einmal mit einem Auge angesehen, geschweige denn in die Feier integriert.
Macht das weihnachtliche Dekorieren für dich überhaupt noch Sinn? Hast du selbst Freude an deinem Festtagsschmuck? Findest du uns schön?

4. Dezember:

… Solltest du uns irgendwann gar nicht mehr bei dir haben wollen, dann wirf uns bitte nicht weg. Du kannst uns verschenken. Es gibt so viele Familien, die nicht genügend Geld für Weihnachtsschmuck haben. Oder häng uns an einen Baum draußen in der Natur. Dort fände ich es auch sehr schön, so würde ich vielleicht doch noch irgendwann echten Schnee zu sehen und zu spüren bekommen. Die eiskalte Winterluft könnte mich kitzeln, das stelle ich mir traumhaft schön vor.
Es wäre auf jeden Fall tausend Mal schöner als bis zum Ende deiner Tage in einer Kiste auf deinem Dachboden eingesperrt zu sein. Und wer weiß, was deine Kinder danach mit uns machen werden …

5. Dezember:

… Ich weiß, dass du dich nicht mit dieser Frage auseinander setzen möchtest, schon gar nicht an Weihnachten, an eurem sogenannten Fest der Liebe. Wenn ich das richtig verstehe, solltet ihr an diesen Tagen besonders nett und aufmerksam euren Nächsten gegenüber sein.
Wieso auch immer. Ich finde ja, man sollte liebe Gesten nicht auf einen bestimmten Zeitraum begrenzen. Entweder man mag einander und schenkt einem deshalb ständig Liebe und Aufmerksamkeit oder man lässt es bleiben. Natürlich kann ich leicht reden, schließlich habe ich sehr viel Zeit für meine Nächsten, diese liegen direkt neben mir in der Kiste und kommen von dort genausowenig weg wie ich.

6. Dezember:

Du könntest uns natürlich auch als Gutschein- oder Geldgefäß benutzen. Einfach das bedruckte Zettelchen deiner Wahl in unsere Öffnung stecken und in einer schönen Geschenkfolie verpacken. Ich bin mir sicher, dass das schön aussehen würde, vor allem dann, wenn du noch einen grünen Tannenzweig an uns bindest.
Ich fände es übrigens nicht sonderlich schlimm, wenn du meine kleine Christbaumkugelfamilie auseinander reißen würdest, wir haben schon alle Liebenswürdigkeiten ausgetauscht. Etwas Neues zu erzählen haben wir auch nicht mehr. Wir erleben hier ja nichts …

7. Dezember:

… Was das betrifft, sind wir übrigens nicht die einzigen in deiner Kiste, denen es so geht: Die armen kleinen und großen Strohsterne und Christbaumfiguren, die du früher immer mit uns zusammen zum Einsatz brachtest, jammern die ganze Zeit, weil sie grau und sporig werden. Der Dachboden tut ihnen gar nicht gut. Ich glaube, wenn du das nächste Mal die Kiste öffnest, wirst du eine böse Überraschung erleben.
Ich weiß zwar, dass dir das vollkommen egal ist, weil du dir jedes Jahr auf den Weihnachtsmärkten neue Dekoartikel kaufst, aber fest steht: Du bist im wahrsten Sinne des Wortes Schuld an unserem Verderben …

8. Dezember:

… Wenn du wenigstens deine neuen Weihnachtsartikel zu uns in die Kiste stecken würdest, dann könnte mir ab und zu jemand erzählen, wie es dir und deiner Familie geht. Anscheinend hast du eine zweite Sammlung angefangen, denn ich bekam dich schon lange nicht mehr zu Gesicht.
Man könnte meinen, du wüsstest nicht mehr, dass es uns überhaupt noch gibt. – Gibt es dich eigentlich noch? Bis jetzt ging ich ganz selbstverständlich davon aus, aber sicher wissen kann ich es nicht.
Ach, Mensch, du fehlst mir. Schau doch bitte wenigstens einmal hier vorbei. Zeig mir, wie faltig dein Gesicht in der Zwischenzeit ist und mustere mich mit demselben nachdenklichen Blick wie früher, als du auf der Suche nach dem perfekten Platz für mich warst …

9. Dezember:

… Du warst immer so … – ich weiß gar nicht, wie ich das nennen soll: Du hattest dein ganzes Haus zur Weihnachtszeit immer so unglaublich liebevoll dekoriert, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass sich daran etwas geändert haben könnte.
Wenn du mich und die anderen der Reihe nach aus der Kiste nahmst, waren deine Hände weich und zart. Du gingst so vorsichtig mit uns um, als habest du Angst, uns zu zerbrechen.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie einmal deine Tochter Marie nach mir griff, wie du mich vor ihren Tapse-Händen beschützt hast – wie eine Mutter ihr Kind vor dem Angriff eines wilden Tiers. Ich fühlte mich in diesem Moment so wertvoll …

10. Dezember:

… Vielleicht vermisse ich dieses Gefühl sogar mehr als die Zeit an deinem Baum in deinem Wohnraum. Natürlich fand ich es immer sehr spannend, den Freundlichkeiten und Streitigkeiten deiner Familie beizuwohnen.
– Weißt du eigentlich, wie fies Marie Edgar gegenüber war? Sie konnte es nicht ertragen, dass der jüngere Bruder von dir ständig bevormundet wurde, deshalb piesackte sie ihn: Sobald die Erwachsenen aus dem Raum waren, ging es los und sobald ihr zurück kamt, war alles wieder gut. Marie spielte das brave Engelchen, das ihren nervigen Bruder mehr liebte als alles andere auf der Welt …

11. Dezember:

… Du kannst dir sicher nicht vorstellen, dass dein Engelchen so fies war, dabei ist sie wahrscheinlich immer noch so.
Marie drohte Edgar: Für den Fall, dass er sie verpetzte, wollte sie erst seiner Katze, später seiner Freundin weh tun. Was genau sie damit meinte, weiß ich nicht, denn Edgar hielt immer die Klappe. Er verkniff sich sogar das Weinen. Das war der Grund, weshalb sein Körper so stark zitterte, nicht wegen irgendeiner unerkannten Krankheit, wie ihr damals dachtet.

12. Dezember:

… Tatsächlich war euer Sohn immer gesund. Edgar kam lediglich nicht mit seiner Schwester klar und ich vermute, daran hat sich bis heute nichts geändert.
Natürlich hast du ihn nie wirklich bevormundet. Du nahmst lediglich Rücksicht auf sein Alter, aber das konnte und wollte Marie nicht verstehen. Sie sah immer nur sich selbst im Vergleich zu ihm und fand es ungerecht, dass sie mehr tun sollte als der jüngere Bruder. An die Zeit, in der sie genauso alt war wie er konnte sie sich nicht mehr erinnern, jedenfalls tut sie so.

13. Dezember:

… Zum Glück habe ich keine Kinder.Wir Kugeln werden von Maschinen produziert und gleichen uns wie ein Ei dem anderen. Wobei ich glaube, dass echte Eier, also Bio-Freiland-Eier von glücklichen Hühnern, sich längst nicht so stark gleichen wie wir Kugeln. Aber das ist ja auch nur eine dumme, alte Redewendung, oder? Vielleicht wollte jemand damit ursprünglich darauf hinweisen, dass auch kleine, auf den ersten Moment kaum sichtbare Unterschiede wichtig sind?
Ich meine, ich sehe genauso aus wie alle anderen Kugeln in meiner Packung und dennoch interessiere ich mich viel mehr für euch Menschen als all meine Kollegen …

14. Dezember:

… Frag mich bitte nicht, woher dieses Interesse kommt. Irgendwie fand ich es früher langweilig, einfach nur an deinem Baum um hängen. Irgendwann wurde mir klar, dass ich euch verstehen kann. Ich meine, ich verstand nicht nur eure Worte, sondern auch euer Verhalten. Ihr seid kein unlösbares Rätsel, man kann euch lesen wie ein Buch.
Das sehe ich jedenfalls so. Und ich liebe es, euch zu lesen, aus diesem Grund würde ich so gerne wieder an deinem Baum hängen. Um ehrlich zu sein: Ich bin die einzige hier, die sich darüber ärgert, in dieser dämlichen Kiste eingesperrt zu sein. Mit den Strohsternen habe ich in all den Jahren nur ein einziges Mal gesprochen – die sind leider wirklich so dumm wie Stroh …

15. Dezember:

… Was meinst du, wie schrecklich langweilig für mich das Leben in dieser Kiste voller dummer Gesellschaft ist? Natürlich könnte ich mit diesen Wesen an meiner Seite reden, aber etwas Neues lernen würde ich dadurch nicht.
Ich glaube, die Ausbildung von Intelligenz hat sehr viel mit Interesse und Neugierde zu tun: Nur wer sich selbst und anderen Fragen stellt, sich auf die Suche nach Antworten begibt, wird im Laufe der Zeit klüger. Dafür braucht man aber auch die Möglichkeit, sein begrenztes Umfeld zu verlassen und sich in die große, weite Welt zu begeben …

16. Dezember:

… Ich wüsste wirklich gern, wie man Weihnachten am Nordpol feiert. Leben dort überhaupt Menschen, die dieses Fest feiern?
Was machen die Menschen, die nicht eurer Religion angehören? Welches war dein schönstes Weihnachtsfest?
Für mich war es das, an dem ich in deine Familie kam. Davor gibt es für mich gar nicht, davor schlief ich wie ein Mensch im Koma. So heißt das doch, wenn man nichts von dem mitbekommt, was um einen herum passiert, oder?
Ich erwachte an dem Tag, an dem du mich mit deinen warmen, weichen Händen aus der Packung nahmst und mir meinen Platz an deinem Baum gabst …

17. Dezember:

… Das heißt aber auch, dass es mich ohne dich gar nicht gäbe. – Wenn ich es mir richtig überlege, darf ich dir gar keinen Vorwurf daraus machen, dass du mich gegen andere ausgetauscht hast, schließlich weißt du gar nicht, dass ich denken kann und dass ich in Gedanke mit dir kommuniziere.
Für dich muss ich genauso dumm und hohl sein wie alle anderen Kugeln – oder genauso faszinierend … Im Grunde genommen gibst du mit deinem Kaufrausch vielen verschiedenen Dingen die Chance, aus ihrem komatösen Zustand zu erwachen …

18. Dezember:

… Du bist also eine Art Jesus für Gegenstände wie mich: Deine Berührung haucht uns Leben ein, du lässt unsere Seelen wachsen. Und wer dieses Geschenk nicht zu schätzen weiß, dem kannst weder du, noch ein anderer Mensch helfen. – Stell dir das mal vor: Plötzlich fangen alle deine Christbaumkugeln an, hell und fröhlich zu funkeln, so wie ich.
Könnten wir singen und tanzen, würde dein Wohnzimmer in einem Meer aus Lichtern und Stimmen versinken. Das wäre fantastisch, oder?
Aber vielleicht sollte ich solche Szenarien besser nicht ausmalen, sonst machst du dich als nächstes auf die Suche nach singenden Christbaumkugeln und für mich besteht gar keine Chance mehr, an deinen Baum zurückzukehren …

19. Dezember:

… Je länger ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher scheint es mir, dass du so etwas bereits besitzt: Statt die Weihnachtslieder von der CD abzuspielen, drückt man auf die integrierten Knöpfe an den verschiedenen Kugeln. Und jede Kugel kann ein anderes Lied.
Das wäre doch die reine Freude für alle Familien mit kleinen Kindern. Die Kleinen würden vermutlich alle Knöpfe gleichzeitig drücken und heraus käme ein wildes Weihnachtsliederchaos. Ein Traum für alle gestresste Weihnachtsmuffel. Die hätten dann noch mehr Gründe, euer Fest der Liebe aus tiefstem Herzen zu verabscheuen …

20. Dezember:

… Vielleicht solltest dich mal auf die Suche nach solchen Weihnachtskugeln machen, falls du noch keine davon hast. Und falls es wirklich noch keine gibt, könntest du meine Idee vermarkten.
Dann muss eben jeder selbst entscheiden, wie viele Lieder er am Baum hängen haben möchte. Andere Kugeln könnten „Hohoho!“ rufen oder ein Glöckchenklingeln imitieren.
Vielleicht ist es sogar möglich, mir einen solchen Chip einzubauen. Viel Platz braucht so etwas sicher nicht, oder?
Ich fände es toll, wenn ich plötzlich Geräusche machen könnte. Natürlich würde ich am liebsten eigene Geschichten erzählen, aber ich glaube, dafür ist eure Technik noch nicht ausgereift genug …

21. Dezember:

… Ein Chip, der Gedanken lesen kann. Was meinst du, was die Menschen dafür zahlen würden …?
Vor allem dann, wenn man selbst entscheiden könnte, ob man diese Gedanken leise oder laut hören kann. Ihr wüsstet alles voneinander – natürlich nur dann, wenn man diesen Chip jedem implantieren würde.
Stell dir mal vor, was das für eure Gesellschaft hieße: Ihr könntet einander nichts mehr vormachen. Bei euch wären keine unzuverlässigen, unseriösen Lügner mehr die Macht, sondern wohlwollende, gesellschaftsorientierte Menschen. Ihr wüsstet endlich, woran ihr wärt und müsstet nicht mehr über die Aussagen anderer spekulieren …

22. Dezember:

… Stell dir vor, es gäbe die Möglichkeit, deine Gedanken zu lesen. Jeder von wüsste in jeder Sekunde deines Lebens, was in der vorgeht: Wir sähen, wenn du uns verabscheust, wir sähen, wenn du etwas nur uns zuliebe machst, wir sähen, wenn dir deine neuen Schuhe oder deine Lieblingsserie wichtiger sind als wir.
Wie ginge es dir mit diesem Wissen? …

23. Dezember:

… Würdest du anfangen, dein Verhalten und deine Entscheidungen selbst zu hinterfragen? Was würdest du auf diese Weise über dich erfahren?
Ich glaube, dass ihr Menschen viele Wahrheiten sogar vor euch selbst versteckt, um euch nicht damit auseinander setzen zu müssen. Das ginge dann nicht mehr.
Wer weiß, vielleicht hasst du ja in Wahrheit Weihnachten, deine Familie, die Dekoration … Ich würde endlich erfahren, wieso du uns gegen andere getauscht hast und sei es nur über Hören-Sagen. Wobei ich ja nach wie vor darauf hoffe, dass du dich dieses Weihnachtsfest mal wieder an deine alten Traditionen erinnerst. Noch ist etwas Zeit dafür, noch ist nicht Heilig Abend …

24. Dezember:

Ich fasse es nicht: Meine Gebete wurden erhört, Du hast mich erhört!
Kannst du vielleicht doch Gedanken lesen? Plötzlich öffnete sich der große Weihnachtskarton, in dem du uns alle aufbewahrst und du nahmst uns alle heraus: Die goldenen, die silbernen, die roten Kugeln … – alle!
Und jetzt liege ich zusammen mit den anderen in einer großen Dekoschale und atme den Duft deines Lebens. Du summst alle Weihnachtslieder aus dem Radio mit und deinen Telefonaten konnte ich entnehmen, dass bald deine Kinder zu Besuch kommen. Zusammen mit deren Partnern; und Marie ist schwanger!
Oh, ich freue mich so auf die vielen neuen Geschichten, die ich nun zu hören bekomme.

Ich liebe dich, du bist mein Weihnachtsengel!

Frohe Weihnachten