Beim Überarbeiten des Buches „Endlich rund …“ und auf der Suche nach einem passenden Text für den Auftritt beim Poetry Slam am 19.7.2015 in Düsseldorf, fand Frau Mauz eine Lehre des Lebens wieder, die aus ihrer Sicht nicht in Vergessenheit geraten sollte:
Es gibt Situationen, in denen man sein Bestes gibt und trotzdem scheitert …
14.2.2010
Hilflos
Ein lauter Knall erklang. Was war das? Was machte so viel Lärm? Ich stürmte die letzten Stufen der Kellertreppe nach oben. Und da lag er: Direkt vor der Türe, mit dem Kopf auf dem blauen Übertopf. Woran man sich im Nachhinein erinnert. Davor hatte ich dieses Ding nie beachtet, aber seit gestern hat sich die Farbe in mein Hirn gebrannt. – Und darauf sein Kopf: Die verwuschelten, weißen Haare, die braunen Augen, die noch kurz flackerten, bevor sie mich verließen und die Speichelblasen, die aus seinem Mund blubberten. Ich schrie ihn an: „Herr Schuster! Herr Schuster! Wachen Sie auf!“ Keine Reaktion. Hektisch zog ich das Telefon aus meiner Hosentasche: Wie war die Nummer vom Krankenwagen? Was musste ich sagen? Wie waren die W- Fragen? Hilfe!
Mit zitternden Fingern tippte ich. Es tutete zweimal, mehr passierte nicht. – Was hatte ich falsch gemacht? Ich wählte noch mal 112. Wieder nichts! Hieß es nicht, die seien immer erreichbar? Hilfe!!!
Konnte ich jemanden bitten, für mich anzurufen? Nein, ich war allein. – Ein Haus voller Menschen, aber keinem davon konnte ich diese Last aufbürden. Da fiel es mir ein: „0“ vorwählen, also noch ein Versuch. Endlich eine Stimme am anderen Ende. Ich nannte meinen Namen, die Adresse, beschrieb, was ich sah: Umgekippter Mann mit Speichelblasen, Kopf auf Topf, nicht ansprechbar. Während der Typ am anderen Ende stotternd nach dem Begriff „Epileptiker“ suchte, fuhr ich ihm über den Mund und erklärte ihm, dass so ein Leiden bei dem Betroffenen nicht bekannt sei. – Woher nahm ich nur die Wörter?
Während er mir mitteilte, dass er einen Wagen schicken würde, war ich schon wieder bei Herrn Schuster. Ich schüttelte ihn, schrie ihn an. Was konnte ich tun? Von der Türe wegziehen? Das ging nicht, er wog mindestens 150 kg. Und wieder: Warum war hier keiner, der mir helfen konnte? Warum ich?!
Der Topf musste weg, aber worauf sollte ich den Kopf dann lagern? – Kissen!
Im Türrahmen hinter mir stand Ute. Sie stand da, schaute, wisperte seinen Namen. Ich fragte sie nach einem Kissen, sie humpelte in ihr Zimmer. Ich hastete hinterher, sagte was von: „Musst du wahrscheinlich waschen“ und war wieder bei ihm. Ich schob die dämliche Pflanze weg und während sein schwerer Kopf, an der Glasscheibe der Türe nach unten rutschte, legte ich das Kissen darunter. Ich rüttelte wieder an ihm, rief seinen Namen. Susi kam die Treppe rauf, schlich an uns vorbei und stand dann still. Er wurde immer blauer. – Verlass mich nicht, tu mir das nicht an!
Oh mein Gott, wie sollte ich bei so viel Fett und in der verkrümmten Lage herausfinden, ob er atmete, einen Puls hatte?
Ich hob mein Ohr an seine Nase. Spürte nichts, hörte nichts, nur einen gurgelnden Laut aus seiner Kehle. Ich musste nichts fühlen; ich sah, dass sein Herz nicht arbeitete, dass er keinen Sauerstoff mehr im Körper hatte. Ich musste ihn wiederbeleben, aber wie? Konnte ich ihn doch bewegen? Definitiv nicht!
„Kann ich was machen?“ Susi stand immer noch da, aber sie konnte nichts tun. Sie war zu langsam, zu schwach, zu hilflos. Hilflos – das war ich auch: Wie bekam ich Luft in ihn rein? – Beatmen! Aber nicht am Mund, der war viel zu groß. Ich brauchte ein Tuch. Nicht, dass ich mir was einfing. Ich stürzte los, zu Ute ins Zimmer, die auf ihrem Bett saß.
„Hast du Taschentücher?“ Mein Blick hatte das Päckchen auf dem Tisch bereits erfasst, bevor sie meine Frage überhaupt verstanden hatte. Ich nahm es mit, rannte zurück, legte ein Tuch auf seine Nase und blies. Warum hatte ich nur das Gefühl, dass das alles nichts half? Der Sabber kam irgendwie doch in meinen Mund. Egal. Sein Gesicht wurde noch blauer. Wann kamen die endlich?! Aus reiner Verzweiflung versuchte ich, auf dem vielen Fett herumzudrücken, gab es aber direkt wieder auf. Ich hatte keinen Widerstand, keine Kraft, also blies ich wieder in seine Nase. Das Taschentuch war weg. Egal!
Es nutzte nichts, ich sah es. Aber es konnte, durfte nicht sein. „Herr Schuster!“ Meine Stimme überschlug sich. Ich fingerte in seinem Mund herum, auf der Suche nach Erbrochenem. Fand aber nur seine Zunge, die zwischen seinen Zähnen eingeklemmt war. Sie war total aufgeschwemmt. Ich zog und drückte, aber alles war starr.
Endlich erklang das „Tatütata“ in der Ferne. Wir mussten sie abfangen. Ich schickte Susi vor die Türe und unternahm einen letzten Versuch, ihn zu beatmen. Aus dem Augenwinkel sah ich Susi regungslos auf dem Gehweg stehen, hinter einem parkenden Auto versteckt. Das konnten die nicht sehen. Ich sprang auf, irgendwie über ihn und auf die Straße.
Sie hielten, es waren zwei Wagen. Ich erzählte was von „blau“, während sie ihre Geräte auspackten. In rasender Geschwindigkeit und dennoch Zeitlupentempo übernahmen sie.
Ich weiß nicht, wie Susi und ich vor ihnen ins Haus kamen. In Bruchstücken habe ich vor Augen, wie sie ihn zu Viert packten und in die Mitte des Flurs hievten, dann verschwand ich um die Ecke.
Ich ging in die Küche, spülte meinen Mund aus. Tigerte den Gang rauf und runter; bekam mit, wie sie auf ihm rumdrückten und einen Luftröhrenschnitt machten. Ich wusste, dass es nichts half, hoffte trotzdem.
Brigitte kam aus ihrem Zimmer, blieb stehen und fragte: „Der Schuster?!“ Ich nickte. „Ich schau nicht!“
„Besser ist das, geh auf dein Zimmer.“
Sie gehorchte, Susi im Schlepptau. Auch ich ging hinterher. Jetzt musste ich mich um die Lebenden kümmern. Ich fragte, ob alles okay sei. Sagte, wir könnten nur hoffen, beten, ihm unsere guten Gedanken schicken. Noch musste ich den Schein wahren, konnte dem Arzt das Urteil nicht vorwegnehmen. Ich drückte ihre Hände und ging zurück auf den Gang; musste schauen, wie weit sie waren.
Sie ließen sich Zeit. Ich wusste, was das bedeutete. Was konnte ich tun? Ich konnte nicht durch das Getümmel ins Büro gehen, also klickte ich mich durch das Telefon und schaute, ob die Nummer des Chefs gespeichert war. Ohne Erfolg. Ich rief in der Außenwohngruppe an und hinterließ meiner Kollegin eine Nachricht. Erzählte nicht, worum es ging, wollte nicht noch mehr Aufregung verbreiten.
Die nächste Bewohnerin kam aus ihrem Zimmer, ich schickte sie zurück: „Notfall, besser nicht schauen!“
Als ich zurückkam, packten die Rettungshelfer zusammen. Sie waren sehr langsam. Ich traute mich nicht, zu fragen. Sie bräuchten seinen Personalausweis. – Wo sollte ich den herbekommen? Hatte er wahrscheinlich bei sich, da er einkaufen war.
Sie wollten sein Zimmer sehen, damit sie ihn hinein legen konnten. – War er zu schwer für den Krankenwagen, das Krankenhausbett? Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, der letzte Hoffnungsfunke, bis es mir wieder einfiel: Man durfte keine Toten im Krankenwagen transportieren.
Und da kam schon die Bestätigung: Sie bräuchten den Originalausweis, um den Totenschein auszustellen. Während ich in den Keller rannte, um in der Akte danach zu suchen, zogen sie ihn auf dem Flurvorleger in sein Zimmer.