Solange Frau Mauz so viel Zeit hat, wie es momentan der Fall ist, wird sie von nun an wieder regelmäßig eine eintagsfliege ihrer Wahl überarbeiten und als eintagsfliege des Tages veröffentlichen.
Aufmerksame Leser erkennen schon an der Nummerierung, ob sich etwas an der aktuellen Ausgabe geändert hat, alle anderen müssen eben einmal mehr klicken und sich einlesen …
Heute war die 44. eintagsfliege an der Reihe.
Achtung, fertig, los!
Leonie saß am Boden, zwischen farbigem, feuchtem Laub und tropfnassen Ästen. Sie trug einen roten Regenmantel, leuchtend grüne Gummistiefel und einen gelben Regenhut. Es war zwar nicht mehr nötig, diesen auf dem Kopf zu lassen, aber irgendwie mochte sie ihn, den hatte ihr die Mama zum Schulanfang geschenkt und seitdem rannte sie fast ständig damit herum.
„Die Läufer warten aufgeregt auf den Startpfiff, sie scharren schon mit den Hufen“, wiederholte sie die Worte, die sie gestern in der Fernsehübertragung mehrfach gehört hatte.
„Achtung, fertig, los!“- das war das Startkommando, das ihre Freundin Susi sonst immer gab.
Leonie riss den schmalen Stock nach oben, der ihr als Startmarkierung diente und begann zu johlen: Auf, auf, lauf schneller Nummer Eins! Was ist denn mit dir los: Hast du das Zeichen nicht gehört? Ich habe doch `Achtung, fertig, los!‘ gerufen!
Keine der Schnecken bewegte sich. Weder die erste in der Linie, noch die beiden anderen daneben. Sie steckten noch nicht einmal ihren Kopf aus den Häusern.
Leonie hob die Erstbeste davon hoch und setzte sie zehn Zentimeter vor die anderen: „Nummer Eins führt, sie ist kurz davor, zu gewinnen.“ Das stimmte zwar nicht, denn sie hatte selbstständig noch keinen Millimeter zurückgelegt, aber das war Leonie egal. Sie wedelte wild mit einem Salatblatt in der Luft herum, das sie bei der Oma aus dem Kühlschrank geklaut hatte und rückte unauffällig die Ziellinie direkt vor die führende Schnecke.
Nichts passierte, auch nicht, als sie den Salat vor das dumme Tier legte: „Ach Mensch, ihr seid echt blöd!“, stöhnte sie genervt und verdrehte dabei die Augen. „Ich dachte, ihr seid Rennläufer, so wie die gestern!“
Ihre Oma Frida, die Mutter ihres Vaters, hatte mit Leonie am Vortag den Leichtathletikwettbewerb angeschaut. Leonie und sie hatten dabei viel gelacht und die Läufer angefeuert, die ihnen am besten gefallen hatten. Oft waren sie am Ende dann ganz hinten, aber das war ja egal. Es ging um den Spaß, den sie dabei hatten.
Deshalb hob Leonie nun die hässlichste und zugleich hinterste Schnecke hoch und trug sie über die Ziellinie. Sie jubelte, applaudierte und überreichte ihr die Goldmedaille – das Salatblatt -, indem sie die Schnecke darauf setzte.
„Ich wusste, dass die gewinnt. Ich habe all mein Geld darauf gesetzt!“ – Das war der Opa, der plötzlich neben Leonie aufragte, wie ein stiller Baum, und ihre die Hand entgegendstreckte.
„Na komm, du süße Regenratte, wir müssen reingehen. Deine Mutter hat gerade angerufen: Sie und Thorsten holen dich gleich ab. Der Abend im Theater war anscheinend schön, sie klang sehr vergnügt.“
Leonie schob schmollend ihre Unterlippe nach vorne: „Ich will noch nicht heim! Bei euch ist es sooooo schön!“
Opa Erwin lachte laut und herzhaft auf: „Jaja, ich weiß schon: Bei uns darfst du länger wach bleiben und mehr Süßigkeiten essen. Und wie ich Caro kenne, darfst du bei ihr auch nicht fernsehen, oder?“
Leonie schüttelte ihre wilde Lockenmähne, die in den letzten zwei Monaten ein gutes Stück gewachsen war: „Alle aus meiner Klasse sehen fern, nur ich nicht!“, jammerte sie, weil sie das Gefühl hatte, der Opa würde dann Mitleid mit ihr bekommen und sie eine Nacht länger bei sich aufnehmen. Aber der schüttelte schmunzelnd den Kopf: „Tut mir leid, meine Kleine, dabei kann ich dir nicht helfen. Das musst du mit deinen Eltern klären. – Und jetzt komm: Auf die Plätze, fertig, los! …“ Erwin griff Leonie an ihrem kleinen, dünnen Ärmchen und zog sie nach oben. Sie begann sich sofort, dagegen zu wehren und hielt sich heulend den Arm an der Stelle, wo der Opa sie angefasst hatte.
„Gut, dann bleib hier! Aber beschwer dich nachher nicht, wenn deine Mama mit dir schimpft, weil du total schmutzig bist!“ Der Opa drehte sich um und trat den Rückweg an, Leonie sah an sich hinunter und betrachtete die braunen Punkte auf ihrer Hose und den Schuhen. Sie schaute noch einmal zu ihren Schnecken: Die Letzte , die Erste wurde, hatte ihren Kopf tatsächlich aus dem Haus geschoben und schon eine kleine Schleimspur auf dem Salatblatt hinterlassen. – Also hatte doch die Richtige gewonnen!
Leonie holte tief Luft, winkte der Siegerschnecke zu und folgte dann ihrem Opa ins Haus.
