Frau Mauz liebt all ihre Fantasiefreunde. Unabhängig davon, wie sie sich verhalten. Denn Frau Mauz weiß: In jedem Mensch steckt ein guter Kern, der sich danach sehnt, entdeckt zu werden.
Dieser Text ist ein Vorabdruck von: Frau Mauz‘ eintagsfliegen, Volume 3a:
Ameisenbär
„Du-u, Mama? Wie sieht denn ein Ameisenbär aus?“, wollte Leonie von ihrer Mutter Caro wissen. Diese war gerade dabei, die Wäsche der Familie zu bügeln und zusammenzulegen und hatte überhaupt keinen Nerv für die Auseinandersetzung mit ihrer wissbegierigen, sechsjährigen Tochter.
„Du bist jetzt in der Schule, da lernt man doch, wie man solche Fragen selbst beantworten kann, oder? Schlag in einem Lexikon unter dem Buchstaben A nach, dann findest du das Tier irgendwann.“
Leonie stand in Zwischenzeit neben Caro am Bügelbrett und schaute der Hand ihrer Mutter dabei zu, wie sie mit dem heißen Eisen Leonies Lieblings-T-Shirt glatt strich.
„Aber Mama, so gut kann ich noch nicht lesen“, erklärte das Mädchen verlegen. „Ich kann erst das A und das M und das I und das E, …“
„Ach, das sind schon fast alle Buchstaben, die man braucht, um das Wort Ameisenbär zu schreiben. Warte einfach noch ein paar Wochen und merke dir deine Frage. Ich habe jetzt etwas Besseres zu tun als dir ein langweiliges Tier zu beschreiben. Und überhaupt: Wie kommst du denn ausgerechnet auf den Ameisenbär?“ Caro setzte nun doch das Bügeleisen ab und schaute ihre Tochter fragend an.
Leonie stupste mit dem Fuß nach einem kleinen Fussel auf dem Teppich und wich dem strengen Blick Caros aus: „Der Tom hat gesagt: Ich bin ein Ameisenbär.“
Caro begann zu lachen: „Aha, haha, du bist also ein Ameisenbär. Davon wusste ich noch gar nichts. Haha. Und wie kommt der Tom darauf?“
Leonie zuckte hilflos mit den Schultern und bückte sich nach dem weißen Faden, der sie so sehr faszinierte: „Er hat gesagt, dass meine Nase genauso lang ist wie die von dem Bär. Und dass ich genauso klein bin.“
Caro schüttelte ungläubig den Kopf: „Hat denn der Tom so ein Tier schon mal gesehen? Es ist nämlich echt dumm von ihm, so etwas zu behaupten: Du hast überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Ameisenbär!“
Caro griff nach ihrem Arbeitsgerät und setzte ihre Tätigkeit fort. Für sie war das Gespräch beendet, aber Leonie war mit der Antwort ihrer Mutter nicht zufrieden:
„Hat ein Ameisenbär eine lange Nase?“ Die Augen des Mädchens verfolgten nun wieder Caros Hand. Diese faltete das kleine, rosafarbene T-Shirt vorsichtig zusammen und legte es in den blauen Wäschekorb.
„Ja, ich glaube schon. Aber du nicht! Und bevor du weiter so blöd fragst: Ja, ein Ameisenbär ist klein und du bist es auch, aber das ist normal in deinem Alter. Du hast noch sehr viel Zeit zum Wachsen!“
„E-echt? Werde ich so groß wie du? Ich will so groß werden wie du!“
Nun zuckte Caro mit den Schultern: „Woher soll ich das wissen? Das müssen wir abwarten!“ Sie nahm das nächste Wäschestück vom Gipfel des Berges und legte es vor sich auf das Bügelbrett, dieses Mal war es Thorstens schwarzweiß kariertes Hemd.
„Der Papa sagt immer, dass ich so groß wie er werde“, erklärte Loenie sachlich und erschreckend selbstsicher.
Caro verdrehte genervt die Augen: „Der Papa kann auch nicht wissen, wie groß du wirst“, verbesserte sie ihren abwesenden Mann. „Der Papa sagt das nur, damit du endlich ruhig bist und er wieder auf seinen blöden Fernseher starren kann!“
Leonie riss ungläubig ihre Augen auf und schrie laut: „Nein! Das stimmt nicht! Der Papa weiß genau wie groß ich werde!“
Caro fuhr sich durch ihre feuchten, verknoteten Haare: „Weißt du was: Glaub doch was du willst! Dann frag aber auch beim nächsten Mal den Papa, wie du aussiehst. Der zeigt dir dann bestimmt den Ameisenbär. Ich hab die Nase voll!“ Caro knallte das Bügeleisen auf die Unterlage, direkt auf das spießige Männerhemd, dann rannte sie schluchzend aus dem Wohnzimmer.
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